Was läuft da eigentlich schief?

Der Osten hat gewählt und so hat die Republik endlich wieder einen Grund dorthin zu schauen und sich völlig überrascht die Augen zu reiben.

Was ist da eigentlich los, dass man nur in meine Heimat blickt, wenn mal wieder (und wieder und wieder…) deutlich wird, dass die politische Kultur dort eine komplett andere ist?

Ein hoffnungsvoller Erklärungsversuch…

Ein paar Gedanken zu den Landtagswahlen letzten Sonntag und am 1. September

Die größte Wählerwanderung zur AfD kam von der CDU. Was die Forschung längst nachgewiesen hat, wird ganz aktuell wiedermal bestätigt: Seit Solingen wird mit unfassbar lautem Tamtam das Thema Migration gespielt und vor allem von der Union getrieben. Da aber die AfD das Thema owned, wählten die Leute lieber gleich das Original ¯\_(ツ)_/¯.
Der größte Zustrom (nicht Wanderung) Richtung AfD insgesamt kam von den Nichtwählenden: Fast 4x so viele Wähler, wie von der CDU Richtung AfD wechselten, brachte die AfD aus dem Lager der Nichtwählenden für sich an die Wahlurne.

Sie mobilisieren also deutlich besser als alle anderen und das, obwohl die quasi monothematisch unterwegs sind.

Wir haben echte Probleme – und rechte Probleme

Dass wir Probleme ganz anderen Kalibers haben als die seit 2017 sinkenden Flüchtlingszahlen, wird dabei von niemandem der politischen Akteure auch nur erwähnt. Zur Erinnerung deshalb hier mal die IMHO wesentlich relevanteren Themen:

  • Es gibt unfassbar viel Geld, welches genauso unfassbar ungerecht verteilt ist.
  • Wer Glück hat viel Kapital zu besitzen…
    • …der hat darauf, weil zuallermeist leistungslos erworbenes Erbe (oder Schenkung), lächerlich wenig Steuern gezahlt,
    • profitiert stark von einer unverhältnismäßig kleinen Steuer auf Kapitalerträge
    • und zahlt obendrein eine kleine, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht entsprechende „Vermögens“steuer.
  • Leistung lohnt sich immer weniger: Das Aufstiegsversprechen wurde gebrochen. Der Niedriglohnsektor, der von Schröder eingeführt wurde, sorgt dafür, dass mehr Menschen aufstocken müssen (Bürgergeld-Diskussion noch im Ohr?) oder gleich mehrere Jobs brauchen. Arbeitsleistung wird unverhältnismäßig stark besteuert.
    Abhängige Beschäftigung skaliert übrigens nicht so gut – Zinsen und Zinseszinsen jedoch sehr.
  • Fachkräftemangel?
  • Fehlende Kinderbetreuung durch eben diesen allgegenwärtigen Fachkräftemangel sorgt dafür, dass immer weniger Menschen Kinder haben können und möchten.
  • Was den demographischen Wandel zusätzlich beschleunigt, der eh schon dafür sorgt, dass Sozialabgaben weiter steigen, die Mittel- und Unterschicht noch stärker belastet werden, was wieder auf meine ersten beiden Punkte zurückfällt. Die beschämende Altersarmut lasse ich mal außen vor.
  • Die gigantischen 600 Mrd Investitionsstau in Deutschland. Uns brechen buchstäblich die Brücken unter dem Arsch weg.
  • Digitalisierung?
  • Bahn?
  • Die fehlgeleitete Schuldenbremse, die dafür sorgt, dass wirklich nichts vorran gehen kann.
    Falls hierrüber doch mal geredet wird, bügelt uns Inkompetenz-Chrissi mit dem schiefen Bild der „Schwäbische Hausfrau“ weg. Die heilige Kuh, die nur dann abgeschafft werden darf, wenn es um Grundrechte sozial schwacher Menschen geht.
  • Bezahlbaren Wohnraum zu finden ist absurd schwer geworden, nicht mehr nur in den Metropolen.
  • Das Bildungssystem ist würdelos (Erwachsenenbildung, anyone?).
  • Ach und dann gibt es noch einen Krieg in der Ukraine, dessen Grenzen eben nicht zw. Polen und der Ukraine liegen, sondern von Putin (und seinen Geistesbrüdern) schon lange in unsere sozialen Netzwerke und in unsere digitale Infrastruktur hineingeseucht wird.
  • Der Klimawandel und die damit verbundene Energie– und Verkehrswende hab ich beinahe vergessen…

Wir sehen, es gibt also durchaus viele Themen, die einen wesentlich größeren Einfluss auf die Lebensrealität und -qualität aller Deutschen haben könnten.
Aber — jetzt ist halt der Flüchtling an allem Schuld. Davor war’s der Bürgergeldempfänger und die Grünen sind’s laut CDU/Springer/Putin inkl. seiner Versteher*Innen ja sowieso.

Postfaktische Zeiten

Dass die Auswirkungen all der o.g. Probleme den Alltag vieler Menschen teilweise sehr stark beeinflussen, ist offensichtlich. Und hier liegt des Pudels Kern:
Nicht oder schlecht angepackte Themen + katastrophale Kommunikation + die Agenda von Springer + Beeinflussungen von Polarisierungsprofiteuren im Innen & Außen + neue Mediendynamiken + Social Media, ergeben eine gesellschaftliche Stimmungsmischung, die explosiv und emotional ist. Fakten interessieren überhaupt nicht mehr, Emotionen sind heute sehr viel wichtiger als sie es ohnehin immer waren. Mittlerweile nimmt das völlig absurde Ausmaße an.

Zwei Beispiele:

  • Die Grünen wurden nicht nur von CDU & CSU zum Feind Nummer eins erklärt.
    Sie (Habeck) wurden im Urlaub vom rechten Bauernmob belagert, weil Klimaschutz ja nur geht, wenn andere sich bewegen und Subventionen doch nichts Schlechtes sind, wenn man selbst von ihnen profitiert.
    Sie ließen sich dabei absurder Weise aufhetzen von jenen, die gegen jede Unterstützung (auch von Bauern) sind – der AfD. Und von jenen, deren zwei größte Eigentümer ihre mit weitem Abstand größten Investments in fossilern Energien machen und Journalismus als Rendite-Objekt sehen – Springer.
    Beide Puppenspieler arbeiten dabei mit den gleichen Mitteln: Hetze, Lügen, Verdrehung von Tatsachen, antidemokratischen Zersetzungsstrategien, Polarisierung, Provokationen, Emotionalisierung, Entmenschlichung, Verunsicherung und am Wichtigsten: Angst machen.
  • Die Hetze seit der Coronapandemie. Ohne jeden Funken von Mitgefühl, Empathie, sozialem Gewissen, Demut, der Anerkennung der Kompetenz Anderer und die gleichzeitige Akzeptanz der eigenen Grenzen gab & gibt es Hass und Misstrauen aus einer gewissen Empörungsschicht (Pegida, Montagsdemos, „die da oben“…). Diese Schicht tritt ständig auf die Straße, ist einfach gegen alles und keiner dieser Leute trägt Verantwortung Jeder hat nur noch Rechte und niemand Pflichten.
    Kritik in allen Ehren, wenn sie Kritik ist. Wo aber Ärzt:Innen in den Selbstmord getrieben werden, der Gesundheitsminister und viele andere entmenschlicht werden, wo irgendwelche KfZ-Mechaniker & Grünpfleger auf einmal über Nacht dank Telegram & YouTube mehr über Impfstoff-Entwicklung wissen, als jeder Virologe und Mediziner, dies auch noch mit Klarnamen mit Drohungen versehen in Social Media Kanäle rotzen, irgendwelche Promis/Influencer*Innen die mangelde Rechtsdruchsetzung in Kanälen wie Telegram nutzen um zu hetzen, zu beleidigen und aufzustacheln, stimmt etwas nicht mit der Wahrnehmung und Reflektionsfähigkeit der Menschen.

Die verliebene Lücke wird dankbar genutzt

Das alles ist bekannt, ist öffentliches Wissen. Angesichts dessen frage ich mich ernsthaft, was in den Parteizentralen so vor sich geht, warum dort die große Stille (oder vielleicht Starre?) herrscht:
Warum überlassen sie die Kommunikationskanäle den radikalen Rechten, den Nazis, den Trollen, den Fake-Accounts, den Putin-Bots und lassen sich zusätzlich von Springer & Co. bedrängen?

Sie haben genügend Geld um in gutes Social Media Marketing und weitere Kampagnen zu investieren – und zeigen doch nur Olaf Scholz’ Aktentasche.

Vor dem Hintegrund fehlender Parteipräsenz, schlechter Kommunikation, offener Koalitionsstreits, krass widersprüchlichen Handelns politischer Akteure bei gleichzeitiger stark veränderter Mediennutzung („ich hab‘ die Headline doch gelesen!“), Veränderungsmüdigkeiten, Unkenntnis von demokratischen Prozessen & Werten, der empfundenen Machtlosigkeit u.v.m. ist es IMHO grob fahrlässig, dass dieses offensichtlich vorhandene Vakuum der willigen, fähigen und gut organisierten Rechten sowie restlichen o.g. Akteuren zu überlassen.
Frei nach dem urdeutschen Motto „Wer nichts macht, macht wenigstens nichts falsch“, schaut Berlin weg. Jetzt gerade mal nicht, aber das geht nur noch ein paar Tage so. Schon jetzt beginnt sich die Diskussion in Richtung „Konsequenzen“ für die Bundesparteien zu entwickeln, das eigentliche Problem bleibt jedoch bestehen.

Die so genannten „etablierten Parteien“ haben noch immer nicht verstanden – obwohl sehr offensichtlich -, dass im Osten (und zunehmend im Westen) zw. Landes- & Bundespolitik nicht differenziert wird, dass der „mündige Bürger“ als selbstbewusst und reflektiert agierendes Subjekt genauso wenig existiert wie der „Homo Oeconomicus“ der Wirtschaftswelt.

Wer nichts macht, macht wenigstens nichts falsch

Wir Deutsche (und insbesondere Wessis) wundern uns also ernsthaft seit Anfang des Monats über das gute Abschneiden der AfD im Osten und deren zunehmenden Erfolg im Westen? Wir wissen doch seit Jahren, dass genau das passieren wird!
Und jetzt reiben wir uns die Augen, weil es tatsächlich passiert, obwohl wir nichts gemacht haben?
Obwohl die Ampel v.a. dank FDP enttäuscht – selbst bei mir mit zum Beispiel diesem unfassbar dreisten Move?
Obwohl wir alle wissen, welche Dynamiken die genannten Akteure ohne jeden Widerstand aktiv befeuern?

Nichts zu tun ist eben nicht „Nichts tun“, sondern verschafft den Polarisierungsunternehmern, Nazis und allen anderen, die an einer Gesellschaftszersetzung interessiert sind, genau den Raum den sie zum Existieren brauchen.

Im Hinblick der scheinbar zum Standard werdenden Verhinderungskoalitionen, die weder im Osten noch im Westen gut für eine Gesellschaftsentwicklung sind (Denn ich wähle vielleicht die SPD, damit die AfD nicht gewinnt. Aber eigentlich möchte ich Die Grünen wählen, was ich aus taktischen Gründen aber lieber nicht tue. Damit wird mein eigentlicher Wille eben nicht repräsentiert.), stellt sich die Frage, wie es der Osten es endlich mal hinbekommen könnte, gute, positive und selbstbestimmte Erfolgsgeschichten zu erfahren. Welche die mit positiven Erlebnissen, Erkenntnissen und Selbstwirksamkeitserleben zu tun haben – weil sie die Erfahrung machen, dass sie etwas Konkretes bewirken können. Etwas was sie direkt in ihrem Alltag positiv beeinflusst.

Betroffene zu Beteiligten machen

Ein mögliches Modell, Menschen wirklich ab- und aus der Wut herauszuholen und gleichzeitig relevante Themen zu lösen, könnte in meinen Augen das der Bürgerräte sein. Zuletzt habe ich das bei Steffen Mau gelesen.
Ein gutes Beispiel, wie direkte Bürgerbeteiligung, jenseits von Volksabstimmungen (die funktionieren in der aktuellen Aufmerksamkeits- und Medienökonomie nicht und nur wenige Themen eignen sich für ja/nein) funktionieren kann, ist in Irland zu betrachten.
Die Idee klingt für mich so naheliegend, dass mich dessen Nichtexistenz in Deutschland fast überrascht, zumindest auf lokaler Ebene. Ähnliche Konzepte sehe ich in der Wirtschaftswelt immer mal wieder: Beim Thema Design Thinking z.B. geht es im Grunde um ganz ähnliche Prinzipien.

Daher, liebe Ost- und West-Parteien: Wann endlich mal weg von „wir müssen näher an die Bürger“ und statt dessen in deren aktive Beteiligung, wann endlich Bürger*Innen-Räte?

Macht Betroffene zu Beteiligten, dann klappts vieleicht auch bei der nächsten Wahl!